Wie passt das zusammen: die vielen Menschen, die heute allein sind, und unsere Welt, in der wir dringend ein neues starkes Wir-Gefühl brauchen, um die anstehenden Probleme zu lösen? Vielleicht geht es darum, das Alleinsein zu nutzen, um genau zu diesem neuen Wir zu finden?
Ich fühle mich einsam. Niedergeschlagen sitze ich herum. „Keiner kümmert sich um mich!“, jammert es in mir. „Ein Egotrip!“, hält ein anderer Gedanke dagegen. Was?!
Langsam dämmert es mir. Ich sitze hier zwischen Zimmerpflanzen und vielen Dingen, die andere Menschen gebaut und mir verkauft haben. Da sind Möbel aus Holz von Bäumen, es gibt Stoffe, Geschirr. Viele CDs und DVDs, auf denen Menschen singen, Geschichten nacherlebbar machen oder mir die Welt erklären. Das Geld für alles, was hier ist, habe ich von Firmen bekommen, denen ich dafür eine Leistung gab. Für zwei von ihnen habe ich sogar heute gearbeitet, auch wenn wir nicht direkt miteinander gesprochen haben. Vorm Fenster stehen Bäume, ich höre ferne Stimmen, Autos, irgendwo wird krachend und scheppernd ein Lkw entladen. Zwischen all dem die Luft, die jedes Leben atmet und die alles verbindet.
Niemand ist je wirklich allein
So oft klagen wir über Einsamkeit. Aber ist es überhaupt möglich, allein zu sein? Alles, was uns umgibt, lebt oder es wurde von anderen Menschen erfunden und erschaffen. Was wir essen, haben andere angebaut, womit wir uns kleiden, haben andere hergestellt, und selbst ärgern tun wir uns für gewöhnlich über andere – und sei es darüber, dass sie nicht da sind oder uns nicht so lieben, wie wir es wollen.
Selbst wenn wir auf einer einsamen Insel ausgesetzt wären oder uns in eine Eremitenhöhle des Himalaja zurückzögen und dort auf Lichtnahrung umstellten – wir wären voll von Eindrücken und Erlebnissen, die wir anderen verdanken. Auch unsere Sprache und selbst unser aufrechter Gang wären ohne das Vorbild anderer nicht möglich. Alle kulturellen Errungenschaften, Erfindungen, ja selbst die Art zu denken – alles wurde durch andere ermöglicht und beeinflusst. Es gibt nicht einmal ein einzelnes Gehirn, sagt der Neurobiologe Gerald Hüther, auch jedes Hirn formt sich in der Gemeinschaft mit anderen, im Austausch, im Reagieren auf das Umfeld.
Als mir das alles bewusst wird, fühle ich eine tiefe Ehrfurcht. So viele hatten etwas für mich getan, an mich weitergegeben und ich an sie. Ich bin Teil eines jahrtausendealten Tradierens und Weiterentwickelns. Eingebunden in ein dichtes Netz, das mir zugleich die Möglichkeit gibt, mich frei zu fühlen.
Eine neue Verbundenheit – mit dem Leben selbst
Erst durch häufiges Alleinsein wurde mit klar, wie vielfältig ich zugleich verbunden bin. Und das nicht nur mit Menschen. Wir kommen ja nicht drumherum: Zeitlebens erfasst uns der Sog des Du. Wir brauchen ein Gegenüber, einen Spiegel, einen Zeugen unseres Seins. Wer dies zeitweise unter den Menschen nicht findet, ist meist umso offener für die Stimmen der Natur und der geistigen Welt. Während sich andere, die als Paare oder Grüppchen unterwegs sind, in ihren Gesprächen verlieren, fällt es dem Einzelnen sehr viel leichter, mit einem Baum in Kontakt zu kommen, einem Fluss, einer Landschaft, einem alten Gebäude. Ungeheuer berührend und heilsam ist es, von dort her Zuspruch und ein ganz eigenartiges Wohlwollen zu erfahren. Zwiegespräche werden möglich und eine tiefe liebevolle Art der Verbundenheit. Und genau die führt nicht selten zu einer neuen Haltung und einem neuen, dem Leben dienenden Handeln in der Welt.
Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass wir an einem entscheidenden Wendepunkt stehen, und viele spirituelle Lehrer betonen, dass uns kollektiv nur ein grundlegender Bewusstseinswandel überleben lassen wird. Einer dorthin, wo wir das Leben an sich – ob in einem Menschen manifestiert, in einem Tiger, einer Biene, einem Wald oder in Gaia, der Erde, selbst – fühlen, achten und lieben. Als meditativer Weg gelebt kann das Alleinsein genau dorthin führen. Und für viele, die sich zeitweise etwas einsam fühlen, kann es eine stützende Vorstellung sein, dass sie vielleicht genau in dieser Lebensphase auf ihre Weise an diesem Feld der Liebe mitweben.
Über die Autorin
Über die Autorin
Franziska Muri ist Kultur- und Geisteswissenschaftlerin, Coach für „The Work of Byron Katie“ und seit vielen Jahren als Lektorin in der Buchbranche tätig. Beruflich wie privat sind ihre Themen ganzheitliche Heilung und Spiritualität. Nach dem Erfolg von „21 Gründe, das Alleinsein zu lieben“ gibt es nun ganz neu von ihr das Buch „Selbstfürsorge. Die 7 Geheimnisse des liebevollen Umgangs mit dir selbst“.
Erhältlich auch unter: www.MONDHAUS-SHOP.de
Mehr Informationen zur Autorin: www.franziskamuri.de